Religionen der Tiere

 

Vorzeiten führten die Ratten gegen die Mäuse einen schrecklichen Krieg. Während nämlich die Ratten nur an einen Gott – den allmächtigen Menschen – glaubten, waren die Mäuse der Meinung, dass es auch noch andere Götter gäbe: den fauchenden Katzengott, die schreckliche Göttin der Nacht „Eulalia“ und die gütige Käsegöttin mit ihren sanften braunen Augen. Sie alle bestimmten für sie über Leben und Tod.

Weil Ratten aber sehr rechthaberisch sind, wollten sie, dass die Mäuse, so wie sie selbst, nur noch den allmächtigen Menschen anbeteten. Ein Teil der Mäuse fügte sich und übernahm die Religion der Ratten. Aber vor allem die Feldmäuse hielten an ihrer alten Überzeugung fest. Das passte den Ratten gar nicht und sie töteten viele, nur weil sie weiter zu ihren Göttern sprachen.

 

Als der Kreuzzug der Ratten immer grausamer wurde, beriefen die Feldmäuse einen „Großen Rat“ ein. Wenn ein „Großer Rat“ abgehalten wurde, kamen Abgesandte aller Tierarten aus allen Himmelsrichtungen zusammen. Die Botschaft vom „Großen Rat“ hatten die Mäuse schnell überall verbreitet und so dauerte es nur ein paar Wochen bis auch der letzte Käfer am Treffpunkt angekommen war.

 

Das war eine Aufregung – alle schnatterten, brüllten, zwitscherten, bellten, jaulten, muhten und piepsten durcheinander. Bevor der Rat eröffnet wurde, gab es erst einmal ein Stärkung. Die Mäuse hatten ihre Vorratskammern geplündert und warteten Köstlichkeiten für jeden Geschmack auf. Danach hielt der Löwe eine kurze Ansprache und überließ dann einer Feldmaus namens Gretchen den „Fels der Worte“. Von hier aus vernahmen alle Tiere was sie zu sagen hatte, obwohl sie mit zarter Stimme sprach. Gretchen erzählte von den Mäusen und Ratten und dem Streit zwischen ihnen wegen des Glaubens. Sie wollte die Meinung der anderen Tiere hören und fragte: „Und wie haltet es ihr mit der Religion?“ Nach der alten Ordnung sprachen die Tiere jetzt nacheinander vom „Fels der Worte“ aus und je mehr Redner an der Reihe gewesen waren, umso größer wurde das Erstaunen unter den Tieren.

 

Denn vom Ameisengott der Blattläuse etwa, hatte der Eisbär noch nie gehört. Für die Fledermäuse und Maulwürfe war der Sonnengott furchteinflößend und zerstörerisch – für manche langbeinigen Insekten aber das höchste Ziel ihrer Spiritualität. Es kam der Windgott des Adlers zur Sprache und die Göttinnen der Farben und des Tanzes bei den Bienen. Der Regenwurm berichtete von Mutter-Erde-Erscheinungen in seinem Volk und die Fische kannten unzählige Wassergötter. Hund und Delphin stimmten mit den Ratten überein was den allmächtigen Menschen anging. Allerdings betete der Delphin auch Neptun als Nebengott der tiefen Wasser an. Zugvögel hatten jährlich lange Pilgerreisen zu Ehren ihrer Götter abzuhalten. Termiten wiederum bauten riesige Tempel für ihren Gott. Faultiere meditierten ihr Leben lang und Marienkäfer hielten sich für auserwählt. Raupen und Schmetterlinge glaubten an Wiedergeburt und die Schildkröten an ein ewiges Leben. „Der Weg ist das Ziel“ war die wichtigste Erkenntnis bei den Schnecken und „Gott ist die Liebe“ flöteten die Turteltauben.

 

Als alle gesprochen hatten, trat eine bedächtige Stille ein und die Tiere sahen sich gegenseitig mit großen Augen an.

Nach einer Zeit trat eine alte Ratte vor und sprach: „Wir haben heute erfahren, wie viele verschiedene Namen Götter haben und Glaube so bunt ist wie das Leben. Ich sehe nun ein, dass wir Ratten nicht das Recht hatten den Mäusen ihre Religion zu verbieten. Ich bitte um Verzeihung dafür. Wie dumm waren wir, uns um Worte zu streiten, obwohl wir alle nur das Unaussprechliche benennen und unseren Hoffnungen und Ängsten Ausdruck verleihen wollen. Aber lasst uns jetzt versuchen noch einmal inne zu halten, denn vorhin, als es so still war, konnte ich die göttliche Lebenskraft auch in mir und in uns allen spüren.“

Die Tiere taten es und alle fühlten, dass sie trotz ihrer Vielfalt in einer wunderbaren Einheit verbunden waren.

 

 

copyright Barbara Schoder